(© Melanie Vogel) Viele digitale Transformationen laufen nicht nur ins Leere, sondern scheitern kläglich. Der Untergang digitaler Vorhaben beginnt meistens damit, dass man glaubt, digitale Prozesse seien wie Manna, das vom Himmel fällt. Ihnen wird eine gewisse Allmacht zugesprochen, die vorhandenen Probleme im Unternehmen vollumfänglich beseitigen zu können. Das ist – wenig überraschend – ein folgenschwerer Irrtum. Das eigentliche Problem, warum digitale Prozesse scheitern, ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass Management und Führungskräfte sich selten ausreichend Zeit nehmen herauszufinden, welche Prozesse überhaupt sinnvoll sind zu digitalisieren. Was wollen die Kunden? Was wollen die Mitarbeitenden? Was ist beiden Gruppen zuzumuten – und was passt zum Unternehmen und zur Unternehmenskultur? Gleichsam erliegen viele Entscheidungsträger einigen lästigen Mythen, die den Glauben an allheilende Digitalisierungsprozesse kontinuierlich befeuern. Vier hartnäckige Mythen möchte ich hier widerlegen.

  1. Mythos der Digitalisierung: Digital ist immer disruptiv. Wer digitale Prozesse einführt und glaubt, danach aus dem eigenen Unternehmen das nächste Apple oder Google zu machen, überfordert nicht nur das Unternehmenssystem, sondern erliegt auch der bereits angesprochenen Allmachtsillusion, was Digitalisierung alles können kann und erfüllen muss. Grundsätzlich können nur die Prozesse sinnvoll digitalisiert werden, die vorher auch schon gut funktioniert haben. Hat man diese Prozesse herauskristallisiert und überprüft, ob eine Digitalisierung zweckmäßig ist, wird die Umsetzung weder schmerzhaft sein, noch zu riesigen innovativen Durchbrüchen führen. Und das ist auch gut so, denn nichts ist unternehmensschädlicher als fehlgeleitete Digitalisierungsprozesse, an die unrealistische Hoffnungen geknüpft sind, in dessen Folge das Kerngeschäft Schaden nimmt, weil man glaubt, mit der Digitalisierung gleichsam das Kind mit dem Bade ausschütten zu müssen. Digitale Prozesse können problemlos in inkrementellen Schritten eingeführt und umgesetzt werden. So werden weder die Gesamtorganisation, noch die Mitarbeitenden und Kunden übermäßig belastet.
  2. Mythos der Digitalisierung: Das Digitale ersetzt das Analoge. Auch das stimmt natürlich nicht. Vielmehr wird es ein „Sowohl-als-auch“ geben (müssen), das im optimalen Fall zu einer zweckmäßigen und sinnvollen hybriden Lösung führt. Auch hier ist es im Vorfeld wichtig sich zu überlegen, was das mittel- und langfristige Ziel sein soll. Insbesondere bei der Diskussion um „New Work“ und die Arbeitswelt der Zukunft, die in vielen Unternehmen seit 2020 geführt wird, ist ein offener Diskurs darüber wichtig, was für die Mitarbeitenden, die Kunden und das gesamte Unternehmen sinnvoll ist. In vielen Unternehmen erlebe ich derzeit eine gewisse Radikalität in die eine oder andere Richtung. Entweder treffe ich auf Unternehmen, die Bürokapazitäten abbauen und schon jetzt gar nicht mehr darauf eingestellt sind, dass alle Mitarbeitenden zur gleichen Zeit am gleichen Ort physisch anwesend sein können. Oder ich treffe auf Unternehmen und Führungskräfte, die sich lieber gestern als heute von der lästigen digitalen Arbeitswelt verabschieden wollen und die Mitarbeitenden wieder in die Büros zurückrufen – komme, was da wolle. Beide Extreme sind aus meiner Sicht nicht zielführend, denn in dem radikalen „Entweder-oder“ verlieren Arbeitgeber die Menschen, die sich an ein „Sowohl-als-auch“ gewöhnt haben und das auch weiterführen möchten.
  3. Mythos der Digitalisierung: Bei dem Thema Digital geht es immer um die Technologie. Dieser Mythos ist nicht nur grundfalsch, sondern auch gefährlich, weil er zu einem verengten Denken führt. Die Technologie ist ein wichtiges, aber tatsächlich meistens das kleinste Problem, das es zu lösen gilt. Viel gravierender – und meistens sträflich vernachlässigt – ist die Frage. Was verändert sich kulturell, kommunikativ und prozessual durch die Digitalisierung? Welche Kompetenzen werden gebraucht? Welche Kompetenzen fallen zukünftig weg? Digitalisierung ist nicht in erster Linie eine technische Frage, sondern eine Frage der (veränderten) Haltung. Wo immer etwas digitalisiert wird, ist im Anschluss die Anpassung menschlichen Verhaltens notwendig, um die digitalisierten Prozesse sinnvoll in das unternehmerische Gesamtkonstrukt einzubetten. Damit verbunden ist immer auch ein kultureller Wandel, denn das Zusammenspiel zwischen Mensch und Technologie muss neu gedacht und organisiert werden.
  4. Mythos der Digitalisierung: Digitalisierung ersetzt das Alte. Meistens ist die Digitalisierung eine inkrementelle Überbrückung – hin zu etwas Neuem, das schrittweise entstehen kann. Alles, was als „großer Wurf“ in einen digitalen Fleischwolf geschmissen wird, birgt große Risiken als winziges Würstchen zu enden. Auch hier ist es wichtig, sich von den Allmachtsphantasien zu lösen, die der Digitalisierung zugesprochen werden. Grundsätzlich sollte nur das digitalisiert werden, was sinn-, zweck- und zielführend ist zu digitalisieren. Und es sollte auch nur und erst dann digitalisiert werden, wenn die Technologie überzeugende Lösungen bietet, die der Sinn- und Zweckmäßigkeit des zu digitalisierenden Unterfangens dienen. Ist eine solche Technologie (noch) nicht in Sicht, sollte das Alte beibehalten werden. In diesem Fall gilt dann – bis auf weiteres: Never change a running system.